Nein, ich beisse mich nicht mehr durch

In der letzten Zeit höre ich im geschäftlichen, aber auch im privaten Kontext Geschichten von Menschen, die sich in einer akuten Überlastungssituation befinden. Etwas salopp: Hier ist jemand (teilweise) arbeitsunfähig geschrieben, da befindet sich jemand in einer Klinik, um wieder Boden unter die Füsse zu bekommen. Mag sein, dass die schon länger andauernde Pandemie seine Spuren hinterlässt, vielleicht ist es aber auch das generell zunehmende «Lebenstempo». 

Oft höre ich auch von ungünstigen Organisationsstrukturen oder einer ungesunden Unternehmenskultur. Es gibt tatsächlich sogenannte «ausgebrannte» Organisationen. Da ist teilweise noch viel zu tun! Solche Umweltfaktoren begünstigen die Entstehung von Überlastungssituationen, sie sind aber nicht der einzige Grund. Es ist bekannt, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder Denkmuster einen grossen Einfluss auf die Entstehung einer akuten Überlastungssituation haben. Deshalb möchte ich den Fokus heute auf persönliche Faktoren legen. Betroffene Personen, die mir spontan einfallen, sind es gewohnt, viel zu leisten, sind motiviert, ehrgeizig, pflichtbewusst. Denkmuster, die mit «sich durchbeissen» oder «sich beweisen» zu tun haben, sind sehr verbreitet. Ein Gedankengang, den ich schon oft (auch an mir selbst) beobachtet habe, ist für mich eine Art Apnoetauchen: «Ich muss mich jetzt einfach durchbeissen, etwas über meine Grenzen gehen, danach kann ich es wieder lockerer nehmen.» Meistens kommt dann aber schon wieder das nächste Projekt und man taucht wieder darin ab, ohne sich vorher richtig erholt zu haben. 

An dieser Stelle gebe ich offen und ehrlich zu: Ich bin ehrgeizig, motiviert, pflichtbewusst und steckte schon in einer akuten Überlastungssituation. Diese Grenzerfahrung machte ich während meines Psychologiestudiums, als ich neben dem Vollzeitstudium noch einer sehr spannenden, aber herausfordernden Teilzeitbeschäftigung in einer Unternehmensberatung nachging. Ich arbeitete viel und verpasste viele Vorlesungen, die ich mit Hilfe von Notizen meiner Studienkolleginnen nacharbeitete. Meine Bachelorarbeit schrieb ich jeweils morgens ab 3.00 Uhr. Zwischendurch hatte ich körperliche Zusammenbrüche, die ich bewusst ignorierte. Schliesslich hatte ich einen tollen Nebenjob, was dann später im Lebenslauf gut aussehen würde und der gefürchtete Berufseinstieg nach abgeschlossenem Masterstudium würde mit mehreren Jahren Berufserfahrung in einer Unternehmensberatung dann wohl ein Klacks werden. Ich hatte nämlich grossen Respekt vor endlosen Praktika nach dem Studium. Also machte ich weiter. Bis ich eines Tages in einer Vorlesung zum Thema Stress sass und feststellte, dass ich den grössten Teil der aufgezählten Stresssymptome bereits an mir selbst beobachten konnte. Zuerst zog ich das etwas ins Lächerliche, weil ich ja hart im Nehmen war und mich durchbeissen konnte. Doch spätestens an einem Wochenende mit meiner Familie als ich nur noch weinte, war für mich klar, dass sich etwas ändern musste. Ich kündigte meinen Job in der Unternehmensberatung, konzentrierte mich aufs Masterstudium und ging «nur noch» Nebenjobs mit klar vorgegebener Arbeitszeit nach (als Nachtportier, als Fitnessinstruktorin und in der Gastronomie). Und: Mein Berufseinstieg nach abgeschlossenem Masterstudium gelang auch so. Ich musste nicht x Praktika absolvieren und konnte eine Festanstellung, die zwar nicht 100 % zu mir passte, als Sprungbrett in die Arbeitswelt nutzen. Das hat mir gezeigt, dass es sich nicht lohnt, die eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen für eine potenziell bessere Zukunft. Ich möchte bewusster und mehr im Moment leben. Das Leben im Moment können wir übrigens wunderbar von Kindern lernen. Und: Ich bin heute allergisch auf das Wort «durchbeissen» und habe es aus meinem aktiven Wortschatz verbannt. 

Es gibt bessere und gesündere Reaktionen auf Stress als die Zähne zusammen zu beissen (führt übrigens oft zu Verspannungen, Kopfschmerzen oder Wirbelsäulenbeschwerden) und weiterzumachen. Und wo stehst du? Willst du so weitermachen?

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